- Messe und Stundengebet: Die musikalische Ordnung des Gottesdienstes
- Messe und Stundengebet: Die musikalische Ordnung des GottesdienstesDie Messe, sakramentale Vergegenwärtigung des Wirkens Christi als Erlöser, hat sich seit den Anfängen des Christentums aus Abendmahlsfeiern entwickelt, denen Gesänge, Fürbitten, Bibellesungen und Wortverkündigungen angeliedert wurden. Im 6. Jahrhundert war die Messe als Hauptgottesdienst der Kirche im Wesentlichen festgelegt. Sie enthielt von alters her Gesänge als konstitutive Bestandteile, die sich zu drei Gruppen ordnen lassen. Die erste Gruppe betrifft Lesungen, Gebete und kurze liturgische Formeln, die vom zelebrierenden Priester oder von einem ihm assistierenden Diakon vorgetragen werden, in einigen Fällen ergänzt durch Antworten (Akklamationen) der Gemeinde. Die beiden anderen Gruppen bestehen aus den Gesängen, die ursprünglich auch aus der Gemeindebeteiligung hervorgegangen sind, bald aber ausgebildeten Sängern, solistisch oder chorisch übertragen wurden. Dies sind zum einen die Gesänge des »Proprium Missae«, die für jeden Sonn- und Festtag »eigenen«, durch das ganze Jahr textlich und musikalisch wechselnden Stücke, zum anderen die des »Ordinarium Missae«, die textlich stets gleichen Gesänge, für die es auch musikalisch nur wenige, also häufig wiederkehrende, Versionen gibt. Aus dem Ineinandergreifen dieser drei Gruppen und dem Nacheinander von Vormesse, Wortgottesdienst und Eucharistiefeier ergibt sich der musikalische Aufbau der Messe.Proprium und Ordinarium Missae zeigen in sich eine reiche Vielfalt der Inhalte und Formen. Der Introitus als Eröffnungsgesang nach dem Stufengebet nahe der Altarstufen wurde ursprünglich während des Einzuges der Priester gesungen und enthielt daher viele Psalmverse. Später wurde er auf einen Psalmvers reduziert, der im wechselchörigen Vortrag mit einem auf den jeweiligen Festtag bezogenen Einschub erklang. Dieser Wechselgesang zweier Chöre wird als »antiphonisch« bezeichnet. Der Einschub selbst nach dem Psalmvers heißt »Antiphon«.Wechseln ein Solist und ein antwortender Chor, spricht man von »responsorischem« Gesang. Der musikalisch anspruchsvollste und am reichsten ausgezierte responsorische Gesang war das Graduale mit dem ihm nachfolgenden Alleluia. Seinen Namen hat es wohl von den Stufen (lateinisch »gradus«) des Ambo, einer erhöhten Kanzelplattform meist im Mittelschiff des Kirchenbaus, auf denen der Singende stand. Seiner Funktion nach war das Graduale - auch der protestantische Gottesdienst kennt das »Graduallied« zwischen den Lesungen - eine Art meditativer Besinnung auf die zuvor gehörte Schriftlesung. Seine Form bestand aus einem »Responsum« (Kehrvers), das der Solosänger anstimmte und der Chor wiederholte sowie einem kunstvoll gestalteten Solovers: A(Solo) - A(Chor) - B(Solo). Die anschließende Wiederholung des chorischen Responsum fiel später zu Gunsten des Alleluia fort.Das Alleluia ist der musikalische Höhepunkt der Messe. Vor allem die letzte Silbe »ia« wurde oft zu einem außerordentlich langen, jubelnd expressiven Melisma gedehnt und heißt daher auch »Jubilus«. Seit dem 9. Jahrhundert begann man, den Jubilus mit einem neuen Text zu unterlegen und zu erweitern, was eine Verbindung zur Entstehung der »Sequenz« nahe legt. In der Fastenzeit, an Bußtagen und in der Totemesse (Requiem) fiel das Alleluia nach dem Graduale weg und wurde durch den »Tractus«, einen Psalmgesang ohne Kehrverse, ersetzt.Das Offertorium ist ein Begleitgesang zur Darbringung der Opfergaben. Seine wechselnde musikalische Anlage spiegelt geschichtliche Veränderungen der Liturgie und des Choralverständnisses wider. In seiner älteren Form war er ein wechselchörig gesungener Psalm mit eingeschobener Antiphon. Seit dem 7. Jahrhundert wurde der antiphonische Vortrag durch den responsorischen abgelöst, bei dem ein wiederkehrendes chorisches Rahmenstück (die »Repetenda«) mit ein bis vier melodisch reich gegliederten Soloversen abwechselt: A - B - A - C - A - D - A - E - A. Seit dem 11. Jahrhundert, als die Gemeinde immer weniger am Opfergang teilnahm und dieser Teil der Messe bedeutend kürzer wurde, fielen die Soloverse im Offertorium fort, und es blieb nur die ursprüngliche Antiphon übrig. Im Zuge restaurativer Choralpflege im 20. Jahrhundert kann der Opfergesang heute wieder mit Psalmversen gesungen werden.Ebenfalls ein Begleitgesang, und zwar zur Kommunion der Gemeinde, ist die Communio, der letzte Gesang des Proprium Missae. Auch die Communio war anfangs ein Psalmvers mit Antiphon. Seit dem 10. Jahrhundert verschwand allmählich der Psalmvers, wahrscheinlich wegen der geringeren Zahl der Kommunionsteilnehmer, nur die Antiphon blieb bestehen und erhielt für sich allein den Namen Communio. Auch hier gibt es neuere Bemühungen um eine Wiederbelebung der Communionspsalmen.Die Gesänge des Ordinarium Missae sind, wie die des Proprium, verschiedenartig in ihrer Herkunft und Gestalt und in unterschiedlichen Phasen der Geschichte des Gregorianischen Chorals in die Messliturgie eingefügt worden. Die Rufe des Kyrie stammen bereits aus antiker Zeit. Spätestens gegen Ende des 6. Jahrhunderts erhielt dieser Teil der Messe seine endgültige Gestalt. Seitdem ist das Kyrie neungliedrig. Dem dreimaligen »Kyrie eleison« folgt ein dreimaliges »Christe eleison« und wieder ein dreimaliges »Kyrie eleison«. Musikalisch ermöglicht das mannigfaltige Formungen, von einfacher Reihung gleicher Glieder über eine Dreiteiligkeit Kyrie - Christe - Kyrie bis zu unterschiedlicher Fügung aller drei Großteile mit bogenartiger Binnenform: a-x-a / b-y-b / c-z-c. Charakteristisch für das Kyrie mit seinem kurzen Text ist ein melismatischer, schwingend linearer Melodiestil. Häufig wird dabei der Schluss der Teile erweitert und im Ausdruck intensiviert.Dagegen ist das Gloria ein wortreiches Stück und besteht vorwiegend aus knappen, eher rezitierenden Melodiewendungen mit vielen melodischen Wiederholungen. Es ist aus verschiedenen Teilen zusammengewachsen, beginnend mit dem Gesang der Engel in Bethlehem »Ehre sei Gott in der Höhe« (aus dem 2. Kapitel des Lukasevangeliums), und hat erst im 9. Jahrhundert seine endgültige Textgestalt erhalten. Über 50, allerdings zum Teil ähnliche Gloria-Melodien sind aus dem Mittelalter bekannt, von denen 18 zum heutigen Standardrepertoire gehören. Textlich das längste Stück der Messe ist das Credo, das Nicänische Glaubensbekenntnis, das aus frühchristlichen Taufbekenntnissen hervorgegangen ist. Die melodische Gestalt der sechs wichtigsten mittelalterlichen Credo-Vertonungen ist ähnlich der des Gloria, eher noch knapper und formelhafter. Beide, Gloria und Credo, beginnen mit einer Intonation des Zelebranten und werden von zwei Chorhälften im Wechsel vorgetragen.Das Sanctus und das Agnus Dei sind textlich und musikalisch relativ kurze Stücke. Ihre Melodien wechseln zwischen einem einfacheren und einem gehobeneren melismatischen Stil. Vom Agnus Dei sind sogar ganz schlichte, syllabische Fassungen, bei denen jeder Textsilbe nur eine Note zugeordnet ist, überliefert. Das Sanctus, dessen Text aus dem 6. Kapitel des Buches Jesaja stammt, ist fünfteilig: Sanctus - Pleni sunt - Hosanna - Benedictus - Hosanna. Das Agnus Dei ist dreiteilig mit wörtlich wiederholtem erstem Teil und abgewandeltem Schluss (»Dona nobis pacem«) nach der dritten Anrufung.Neben den Gesängen der Messe stehen als eine zweite große Überlieferungstradition des Gregorianischen Chorals die Sammlungen der Gesänge für das Offizium, die Ordnung der kirchlichen Stundengebete. Nach anfänglichen verschiedenartigen Gebetsgottesdiensten der einzelnen frühchristlichen Gemeinden entstanden seit dem 4. Jahrhundert in wechselseitigem Einfluss zwischen den Gebetsriten der neuen Mönchsgemeinschaften und den Gemeinde- und Bischofskirchen festere Liturgien für die über den Tag verteilten Stundengebete und damit auch Vorschriften für deren musikalische Gestaltung. Allerdings existieren beim Offizium eine Fülle regionaler und zeitlich begrenzter Sonderentwicklungen, und entsprechend vielfältig ist die Überlieferung der dazu gehörenden Gesänge. Sie wird zusätzlich noch dadurch kompliziert, dass in den Klöstern das Offizium zunehmend in mehr und mehr erweiterter Form gefeiert wurde.Das römische Offizium des Hochmittelalters kennt acht Stundengebete: Matutin (früher auch Vigil), Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Unter diesen sind Laudes und Vesper, hervorgegangen aus frühchristlichen Morgen- und Abendgebeten, neben der Matutin die umfänglichsten Gebetsgottesdienste. Sie enthalten jeweils fünf (die Matutin bis zu neun) Psalmgesänge mit ihren Antiphonen und einen Leseteil, bei den Laudes verbunden mit einem Benedictus, bei der Vesper mit einem Magnificat. Prim, Terz, Sext und Non, die »kleinen Horen«, umfassen drei Psalmen und einen Leseteil, dazu im Anfangsteil einen Hymnus. Auch in der Matutin, Vesper und der Komplet erhielten die Hymnen seit dem 6. Jahrhundert einen festen Platz. So schließt die Matutin regelmäßig mit dem Hymnus »Te Deum laudamus, te Dominium confitemur«. Dass die Sänger dieses immensen Repertoires, in erster Linie die Mönche in den Klöstern, die dazugehörigen Melodien bis ins 9. Jahrhundert hinein auswendig beherrschten und nachfolgenden Generationen nur mündlich weitergaben, ist aus heutiger Sicht eine fast unglaubliche Gedächtnisleistung. Sie war allerdings nur innerhalb eingegrenzter, kontinuierlich sich entfaltender Kulturregionen möglich. In dem Augenblick, in dem neu in die Geschichte eintretende Völker mit dieser musikalischen Tradition vertraut gemacht werden sollten, mussten neue Möglichkeiten der Vermittlung gefunden werden.Prof. Dr. Peter SchnausEggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Taschenbuchausgabe München u. a. 1996.Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.Geschichte der Musiktheorie, herausgegeben von Thomas Ertelt und Frieder Zaminer. Band 3: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter. Beiträge von Michael Bernhard u. a. Darmstadt 1990.Gülke, Peter: Mönche, Bürger, Minnesänger. Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters. Leipzig u. a. 21980.Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Bern u. a. 21990.Hirtler, Eva: Die Musik als scientia mathematica von der Spätantike bis zum Barock. Frankfurt am Main u. a. 1995.
Universal-Lexikon. 2012.